Un-Yoga

Allem voraus will ich sagen, dass ich das eigentliche Yoga toll finde. Nur so, damit Sie beim Durchlesen keine Zweifel haben. Das Problem ist nur: was ist das eigentliche Yoga? 😀 Und warum Un-Yoga? Interessiert? Dann mal los.

Was ist Yoga?

Wahrscheinlich erwarten Sie, dass ich hier die Geschichte über die indischen Yogis der Antike – nochmals – schreibe, nachdem es schon Tausende geschrieben haben. Das tue ich nicht. Ich weiß, man tut sich schwer, herauszufinden, was in der Geschichte wirklich wahr ist. Das betrifft alles, was vor langer Zeit stattgefunden haben soll – nicht nur Yoga. Daher ist es besser, hierzu die studierten Historikerinnen und Historiker zu befragen. Worum es mir geht, ist etwas anderes. Ja, es ist nicht ganz unwichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass die alten indischen Yogis physisch gesunde Menschen mit starken mentalen Fähigkeiten waren. Auch ist es wichtig darüber nachzudenken, dass es in alten Zeiten gar nicht so viele Yogis gab – es sah also etwas anderes aus als die vollen Studios heute, die es an jedem Eck gibt. Auch die Yogis sahen wahrscheinlich oft anders aus als die jetzigen.

Teilweise liegt es daran, dass es tatsächlich viele Yoga-Schulen auch früher schon gab – habe ich mal gelesen. Die einen kümmerten sich eher um physische Fertigkeiten, wie beispielsweise Dehnung, Ausdauer, Kraft. Die anderen fanden die „spirituellen“ Techniken ganz wichtig und beschäftigten sich mit unterschiedlichsten Arten von Meditation. Die einen vertieften die eine Seite der Yoga-Lehren, die anderen eine andere. So ist es auch heute. Nur dass es heute auch eine Menge Menschen gibt, die es als Lifestyle, Freizeitvertreib betreiben oder sich wohl in entsprechenden sozialen Kreisen fühlen. Ihnen geht es nicht so sehr um die Selbst-Entwicklung.

Deswegen ist es schwer zu sagen, was die eigentliche Yoga-Lehre oder -Praxis ist. Toll finde ich die Selbst-Entwicklung. Das macht Menschen fit und hilft ihnen praktisch im Leben. Nicht toll finde ich „Pudelwohl-Gesellschaft“ (weiter unten finden Sie mehr dazu). Nicht toll finde ich, wenn tolle Ideen zu purem Marktgeschehen oder Politikinstrumenten degradieren. Nicht toll finde ich, wenn alte Techniken so idealisiert werden, dass man glaubt, im Altertum waren die Leute fortgeschrittener als die heutige Wissenschaft. Und nicht toll finde ich, wenn tolle Dinge zu Labels verkommen, hinter welchen nichts mehr zu finden ist. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich wissen wollen, was genau ich damit meine. Deswegen führe ich ein wenig aus.

Yoga ist Selbst-Entwicklung

Ich als ein Kind der 1980er und 1990er Jahre habe zum Thema Selbst-Entwicklung mehr mitbekommen als es nötig war. Die einen trieben Sport wie wahnsinnig, die anderen lasen viele Bücher – seltene, „geheime“, alte Bücher, in unterschiedlichen Sprachen und suchten nach Möglichkeiten der Selbst-Entwicklung. Es gab Zeiten, da waren Buddhisten und Anhänger von Krishna, die allen die Wege zur Perfektion und Nirwana erklärten. Macht verlierende Kirchen strengten sich an, Menschen vor Wertezerfall zu retten und ihnen doch das Gute vom Christentum für ihre Selbst-Entwicklung zu geben – so hat man das wenigstens kommuniziert. Dann kamen die ganzen Gurus der Finanzwelt und erzählten, wie wichtig es ist, reich zu werden und ihre Bücher zu kaufen. Sie begeisterten das Publikum nicht schlechter als all die religiösen Gurus. Die Welt änderte sich drumherum. Verkaufen wurde zu einer Religion. Dann wurden Finanzen zu einer. Dann wurde zu einer die IT. Und alle priesen ihre Welten so begeistert an – ein prächtiges Theaterspiel. Ebensolche Eindrücke hatte man auch von Yoga-Begeisterten. Die letzteren zeigten Menschen, wie man Herzrhythmusänderung erreicht, sie zeigten, wie toll man sich fühlen kann, wenn man meditiert und wie zufrieden, ausgeglichen und „harmonisch“ man dann mit der Umgebung leben kann. Sie zeigten auch, was für tolle Dinge man entdecken kann, wenn man stillhält und dem eigenen Inneren genug Aufmerksamkeit schenkt (geht auch ohne Yoga – lesen Sie dazu meinen Beitrag „Lineart“). Kurzum: sie zeigten fast alles, was die verzweifelten Kirchen davor auch schon gemacht haben. Sorry, nicht ganz. Dehnung war schon neu. Da ging es auch um Schmerz aushalten und dabei emotional neutral sein. Na ja, das war auch bei Christen so. Hin oder her, die Selbst-Entwicklung hat sichtlich geholfen, den einen in der Sporthalle, den anderen in eigenen Finanzen, den Dritten auf einer Yoga-Matte.

Labels

Wie es immer so ist mit Dingen, hinter welchen alle laufen, sammelten sich Menschenkreise und fanden es toll, zuzusehen, ein bisschen mitzumachen, auch mal als Yogi bezeichnet zu werden – voller Stolz. So ungefähr wie die „Boxer“, die niemals in einem Wettkampf waren. Oder mit modernerer Sprache: wie „Hacker“, die noch nie ein eigenes Programm geschrieben haben. Oder wie „Gangster“, die noch nie kriminell waren. „Prinzessinnen“, die immer vor Machtkämpfen geschont blieben. So etwas ist abstoßend, lächerlich, aber zutiefst menschlich und passiert wirklich immer und wieder. In jeder Generation erscheinen immer und wieder Menschen, die ein Label tragen, hinter welchem man nicht das findet, was man im „Normalfall“ erwarten würde. Manche sagen dazu „man soll lieber echt bleiben“, „sei du selbst“ oder so ähnlich. Und sie haben, denke ich, Recht, auch wenn wir Menschen uns ständig ändern.

Faszination Altertum

Haben Sie noch nie jemanden getroffen, der oder die eine übertriebene Begeisterung fürs Altertum zeigte? Ich schon. Das sind Menschen, die oft von „unerklärbaren“ Bauweisen der ägyptischen Pyramiden sprechen oder von UFO-Zeichen in Hieroglyphen oder von „spirituellem Wissen“ oder von fehlerfreier Ernährung nach Ayurveda. Da gibt es viele Beispiele. Es ist wirklich spannend, sich mal mit den sie so faszinierenden Themen zu befassen. Doch je mehr Wissen – vor allem im modernen Sinne – man sammelt, desto unerklärlicher wird die Faszination fürs Alte. Manche Dinge, die früher so faszinierend erschienen, entpuppen sich als völlig banal. So banal, dass man es nicht glauben möchte. Der ganze Zauber-Effekt geht dabei verloren – schade, aber vielleicht ist es auch gut so?

„Spirituelle“ Menschen haben früher geglaubt, dass man kranke Menschen nicht operieren darf. Wollen wir uns wirklich an so einem Glauben festklammern? Ebenso „spirituelle“ Menschen haben früher geglaubt, dass ihnen Armut als Schicksal unausweichlich vorgeschrieben ist, wenn sie in entsprechenden Kasten geboren waren. Ist dies etwas, was im Altertum „besser“ war? Bestimmt nicht weniger „geistlich“ waren die, die glaubten, dass Monarchen so sehr „gesalbt von Gott“ waren, dass man ihnen buchstäblich alles erlauben solle. Ich hoffe, Sie sehen, dass früher nicht alles besser war. Es ist erschreckend, wenn jemand beispielsweise versucht, alte Ernährungslehren wie Ayurveda als fortschrittlicher zu verkaufen als die moderne Wissenschaft ist. Gemeint ist dabei die Wissenschaft, die nicht nur Verhalten beobachtet, sondern ganz viel mit Chemie, Physik und Biologie arbeitet, und zwar auf dem Niveau, welches im Altertum nicht mal denkbar war. Es ist erschreckend. Man soll jedoch wohl merken, dass nicht Ayurveda als ein historisches Denkmal menschlicher Bemühungen um gesunden Lebenswandel, sondern die Idealisierung zum Schreck führt. Doch der Schreck ist da.

Marktgeschehen und Politikinstrumente

Vermutlich merken Sie es genauso wie ich. Da, wo Menschen fasziniert sind und sich in Mengen tummeln, ist auch die wirtschaftliche Nachfrage hoch. Es gibt in Wirtschaftswissenschaften genug Theorien, die es erklären. Wenn Sie nicht auf Theorien stehen, müssen Sie sich nur ein paar Beispiele aus der Praxis greifen und nochmals vor Augen führen: Apple mit seiner Kult-Marke, deutsche Autos (ja, ich weiß, es gibt objektiv gute Qualität – auch), Yoga. Nehmen Sie es mir nicht übel. Es ist nicht die Selbst-Entwicklung, die ich hier meine. Auch nicht die indische Tradition und Geschichte. Was ich hier meine, ist die Nachfrage nach Yoga-Kursen, Yoga-Studios, Yoga-Leggins (können Sie auch bei mir kaufen), Yoga-Matten, Yoga-Gurus, Yoga-Musik und vielem mehr, was zu diesem Markt (Geschehen um Angebot und Nachfrage) gehört. Ist es schlecht, dass Yoga auch ein Markt ist? Nein. Was ich persönlich nicht mag, ist, wenn es mehr Markt ist als etwas, was Menschen nützt. Ein Beispiel? Bitte sehr. Frau X leidet an Zuckerkrankheit. Ihre Freundin erzählt ihr voller Begeisterung über den Guru Y, der „schon mehrere geheilt hat“. Frau X geht voller Hoffnung zu Guru Y. Guru Y nimmt selbstverständlich Geld für seine Leistungen – er arbeitet ja. Frau X ist glücklich und wird seine Markenbotschafterin. Es vergehen Jahre. Nur eines ist dabei ein Problem – sie ist immer noch zuckerkrank und spritzt mittlerweile auch Insulin. Kein realistisches Beispiel? Doch. Denn wo es Nachfrage gibt, gibt es auch Angebot, und das Angebot wird auch mal von Betrügern unterbreitet. Nicht wahr?

Und so kämpfen die Gurus mit ihren Wettbewerbern aus anderen Sportarten und Religionen – um Sie und um mich. Das ist ein normales Marktgeschehen. Schade ist nur, dass diese ganzen Anbieterinnen und Anbieter oft so hochmoralisch tun, um ihr Geld zu verdienen. „Aber doch nicht mein Guru…“ sagen Sie? Ich kenne Ihren Guru nicht. Was ich aber sicher weiß, ist die Tatsache, dass es keine perfekten Menschen gibt – alle machen Fehler, haben unvollkommenes Wissen und können bei Weitem nicht alles. Sie wissen besser, ob Ihr Guru sich auch so positioniert.

Als ob es nicht reicht, kommt auch Politik ins Spiel. Das ist übrigens kein Wunder. In der Politik sitzen Menschen, die Nachfrage im Markt kennen und für sich nutzen. Wenn sie es nicht tun, sind sie einfach nur dumm. Entschuldigen Sie die emotionale Meinungsäußerung. Was ich damit meine, ist, dass Yoga offensichtlich auch für politische Zwecke eingesetzt wurde. Ich urteile hier nicht, ob es gut oder schlecht war. Denken Sie an Gandhi. Das ist ein Beispiel der Anwendung. Denken Sie an Kastenwesen. Das ist ein anderes Beispiel. Es war mit anderen Religionen oder Selbst-Entwicklungskonzepten nicht anders. Da ist einfach etwas, was fasziniert, Menschen anzieht, sie in Scharren um sich herum sammelt, sie vereinigt. Und diese Nachfrage nutzt man in der Politik auch heute.

Was macht die Politik heute mit Yoga? Um ehrlich zu sein, beobachte ich es nicht. Aber stellen Sie sich mal ein hypothetisches Szenario vor, wie folgt:

Stellen Sie sich vor, dass die Hälfte Ihrer Landsleute mehr Vertrauen in beispielsweise chinesische Gurus hat (tja, Yoga ist halt nicht deutsch, und nein, auch nicht arisch – und auch nicht chinesisch:)) als in die Selbst- Entwicklungsspezialisten, die sich eher Ihnen verpflichtet fühlen als der chinesischen Regierung. An sich nicht unbedingt schlecht. Dann stellen Sie sich vor, dass die chinesische Regierung (ist nur ein fiktives Beispiel!) bestimmte Gurus nutzt, um bestimmte Propaganda-Elemente in die Gemüter zu pflanzen – Jahre lang. Und dann plötzlich kommt es zu einer absolut abgefahrenen Lage, in der die chinesische Regierung offiziell erklärt, Ihr Land als „ursprünglich chinesisch“ annektieren zu wollen. Die Hälfte Ihres Landes tobt in Wut und die andere Hälfte „sieht die Rettung kommen“.

Wissen Sie, ich habe auch geglaubt, so ein krankes Szenario eher etwas aus Science-Fiction ist, doch es gibt Beispiele mit anderen Ländern, wo sehr ähnliche Vorkommnisse – mit spirituellen Gurus – beobachtet wurden. Ja, in der jüngsten Vergangenheit und Sie werden es nicht glauben, das war gar nicht so weit von hier. Krass.

Ich möchte hier um Vorsicht bitten. Ich bin nicht politisch rechts. Auch gehöre ich nicht zu Protektionisten. Ich halte Weltoffenheit für grundsätzlich richtig. Und für mich haben alle Menschen grundsätzlich gleiche Rechte. Auch bin ich dafür, von anderen zu lernen und nicht immer das Eigene in den Vordergrund zu stellen.

Was ich hier meine, ist, dass man Naivität verlieren sollte. Naive Zeiten scheinen leider vorbei zu sein. Im Kontext von Yoga heißt es, dass man „das eigentliche Yoga“ keinesfalls abtun, aber den politischen Missbrauch hinter „Yoga“ auch nicht ausschließen sollte. Und noch einmal: das gilt nicht nur für Yoga, sondern für alle Konzepte der Selbst-Entwicklung – ausländische wie einheimische. Muss also gar nicht „spirituell“ sein.

Pudelwohl-Gesellschaft

Es ist schwer, sich von Wohlstand zu trennen. Es ist schwer, sogar den Gedanken zu akzeptieren, dass „fette Jahre“ vorbei sind. Und es ist genauso schwer, sich aus dem „Pudelwohl“-Modus zu verabschieden. Was sehen Sie, wenn Sie die heutige Welt anschauen? Ihre Medien? Ihre Umgebung? Menschen? Ich sehe Angst. Ganz viel davon. Die einen haben Angst, nicht wieder in die wirtschaftliche Führung zu kommen und dementsprechend ihre Standards und Anerkennung einbüßen zu müssen. Die anderen haben Angst, ihr Hab und Gut zu verlieren. Die Dritten haben Angst vor Unbekanntem und versuchen sich, abzusondern und abzukapseln – ein ganz schweres Unterfangen in der modernen Welt. Die Vierten haben Angst vor Krieg und knien vor Diktatoren nieder, um „wenigstens stabil leben zu können und zu wissen, was auf sie morgen zukommt“ (sie werden es leider auch dann nicht wissen, wenn sie versklavt sind – aber wer bin ich schon, um es ihnen zu sagen). Die Fünften haben Angst vor Veränderungen. Und so weiter. Panik. Ich sehe ganz viel Panik. Wenn man Angst hat, kommt man nur sehr ungern aus der „Muschel“, nicht wahr?

Ganz besonders ungern wird man jegliche Risiken eingehen, wenn man es gewohnt ist, die meiste Zeit „in Harmonie“ zu verbringen. Die Harmonie ist da, wo man sich wohlfühlt, wo es so förderlich und therapeutisch wirkt, wo man „Zuhause“ ist. Dies ist etwas, was Yoga (das eigentliche) sehr gern gibt und was Menschen umso mehr nehmen wollen, umso mehr sie davon bekommen. Ja, wie Junkies. Und umso mehr man davon hat, umso normaler es erscheint – man merkt dann auch nicht, wie man alles feindlich ansieht, was eine oder einen „aus der Balance“ bringt. Ich möchte hier nicht diskutieren, warum das sogar an sich nicht gut ist. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass die Zeiten, in welchen wir leben, nicht mehr dazu passen. Ja, das ist nur meine bescheidene Meinung. Sie wissen bestimmt besser, wie es in Ihrem Leben ausschaut.

Doch wenn Sie Ähnlichkeiten in Ihren und meinen Weltbildern entdecken und gewohnt sind, in der (!) Muschel zu sitzen, dann gehen Sie bitte daraus möglichst schnell. Tun Sie es jetzt. Just in case. Zurück können Sie – dank dem eigentlichen Yoga – immer. Möge dieses Bild für Sie eine Erinnerung daran sein.