Helle und dunkle Seite

Große Worte zu Dark Side

Aus der Perspektive der jetzigen Zeit scheint das Thema bereits „normal“ zu sein – das mit zwei Seiten einer Persönlichkeit, eines Menschen. Natürlich weiß man nicht wirklich, wie es früher war – man kann nur zeitgenössische Berichte lesen und Annahmen treffen. Doch war dieses Thema eigentlich immer irgendwie relevant für Menschen. Gut und Böse – es geht um nicht weniger als das.

Sicher scheint es nicht so wichtig zu sein, wenn man mit Überleben, mit Geld verdienen, mit alltäglichen Routinen und Pflichten beschäftigt ist – jede und jeder Erwachsene kennt es gut. Sicher erscheint es auch nicht so bedeutend, wenn man das Leben erst entdeckt beziehungsweise in vollen Zügen genießt – das sollte jeder junge Mensch kennen. Ist es dann überhaupt relevant? Ja.

Westliche Gesellschaft von heute hat Individualismus so tief in eigenem Selbstverständnis verankert, dass es gar nicht mehr wegzudenken ist. Dass Menschen im Prinzip Sozialwesen sind, ist für viele eine lästige Realität. Doch in jeder Begegnung mit anderen spielt das Thema „Gut und Böse“ eine wichtige Rolle. Als Kind wollen Sie nicht, dass jemand Ihr Spielzeug wegnimmt. Als Teenager wollen Sie nicht, dass jemand Ihre Liebe, Ihren Schwarm wegschnappt. Als Erwachsener wollen Sie nicht, dass jemand die Ressourcen in die Hand bekommt, die Sie haben könnten. Hier geht es um Gerechtigkeit, um Liebe, um Ihre Bedürfnisse, um Ihr Eigentum, um Ihre Zukunft, um Ihr Leben, nicht wahr? Dabei hängt es nicht davon ab, welche Gesetze in Ihrem Land auf dem Papier stehen – nicht die entscheiden darüber, ob Sie „die dunkle Seite“ von jemandem kennenlernen. Sie wollen nicht, dass mit Ihnen böse umgegangen wird. Niemand will. Da sehen Sie, dass es doch relevant ist.

Philosophien von früher und Daten von heute

Philosophien gab es früher viele. Religionen sind, übrigens, auch nichts anderes als Philosophien. Auch heute gibt es nicht wenige. Im Westen kennen die meisten Menschen allerdings nur einige wenige, die aber wirklich viele Nachfolgerinnen und Nachfolger haben – Christentum, Islam, Buddhismus. Restliche sind kleiner. Deren Anhänger streiten sich oft, manche bekriegen sich, doch im Grunde haben sie viel gemeinsam. In Bezug auf Gut und Böse sind die zwei zuerst genannten aus den drei Großen eher strikt. Sie versuchen es sehr klar zu teilen. Dabei schreiben sie die Ursprünge von Gut und Böse höheren Kräften zu. Für das Gute sei Gott zuständig. Für das Böse der Teufel. Bei den Buddhisten ist es nicht so klar. Um ehrlich zu sein, da ist nicht nur das, sondern auch alles andere weniger klar. Doch auch die bemühen sich darum, im Menschen das Gute zu kultivieren und das Böse nicht ohne Notwendigkeit an Tageslicht kommen zu lassen.

Heute glaubt man weniger an höhere Wesen. Manche glauben überhaupt nicht an Gott, Teufel oder Buddha in jeglichen Formen. Aber das Thema „Gut und Böse“ bleibt relevant. Moderne Menschen lieben Daten. Alle sammeln Daten wie verrückt. Wenn Menschen genug davon haben, sprechen sie immer von Empirie. Sie meinen damit, dass etwas statistisch nachweisbar ist – aus Erfahrung. Wenn Sie in diesem Kontext an die Beispiele von oben – das mit Spielzeug, Schwarm, Ressourcen – denken, dann finden Sie dazu relativ einfach einen Haufen an Statistiken. Statistiken zu Raub, Diebstahl, Vergewaltigung, Betrug, und allen anderen Arten der Kriminalität sind frei verfügbar und überwältigend. Die Kriminalität ist das Böse, von welchem wir reden – nichts Esoterisches, Religiöses, Spirituelles, alles völlig banal. Bei genug Polizeigewalt hält man die Statistik niedrig – „Einzelfälle“, Tausende, Hunderttausende Einzelfälle gibt es dann trotzdem. Und rein empirisch-statistisch wird es sie auch weiterhin geben. Das heißt, Staatsgewalt und damit verbundene Angst vor Bestrafung löst nicht alle Probleme und beseitigt nicht die dunkle Seite. Mehr als das: Erfahrung von vielen Ländern zeigt, dass Polizeigewalt in vielerlei Hinsicht missbraucht wird. Bei zu viel Gewalt in einer Hand und fehlender Opposition führt es oft zu jeglichen Formen von Machtmissbrauch – das ist dieselbe dunkle Seite. Sie können sich nichts darunter vorstellen? Denken Sie an Priester, die Kinder missbrauchen – in einem Land, wo die Kirche immer noch unheimlich mächtig ist. Denken Sie an Bossing – in einem Land, wo Vetternwirtschaft übermächtig ist. Denken Sie an die Journalisten, die fürs Kritisieren – das gehört zu ihrem Beruf – im Gefängnis landen. Denken Sie an Menschen, die in Knast befördert wurden, für etwas, was sie nie getan haben, weil Beamten und Machthaber „geschmiert“ wurden. In Zeiten, in welchen Demokratie in echter Gefahr ist, und zwar international, ist das Thema mehr als aktuell. Wenn Sie es in Ihrer Umgebung nicht merken, freut es mich für Sie. Das bleibt so nicht lange.

Sie sehen, glauben Sie an Gott oder nicht, ist für die praktische Bedeutung von Gut und Böse absolut egal. Aber eben das Gute und das Böse sind nicht egal. Ob Sie dabei glauben, dass das Böse vom Teufel kommt oder Teil Ihrer Natur ist, ist für Menschen, die darunter leiden, absolut irrelevant. Sie können Ihr ganzes Leben lang das Bewusstsein über Ihre „ekelhaften Seiten“ unterdrücken und auf andere projizieren – Psychoanalytiker wie einst Sigmund Freud haben dieses Verhalten gut studiert, empirisch. Sie können meinen, dass es nur andere sind, die wirklich böse wären. Sie werden jedoch trotzdem destruktiv handeln. Sie werden lästern. Sie werden Gerüchte verbreiten. Sie werden diskriminieren. Sie werden lügen. Das sind nur ein paar Beispiele dessen, was alle Menschen tun. Das Schlimme ist auch, dass gerade wenn Sie es, vor allem sich selbst, nicht zugeben, werden Sie auch nicht motiviert sein, etwas zu ändern.

Dunkle Seite – eigene Dämonen

Nun sind wir endlich an dem Punkt angekommen, von welchem aus wir die dunkle Seite nicht mehr bestreiten können – ob die einer Gesellschaft oder die eines einzelnen Menschen. Was heißt es, wenn die dunkle Seite ein Teil menschlicher Natur ist? Meines Erachtens heißt es eine Menge. Zum einen heißt es, dass es keine Rolle spielt, ob es von höheren Kräften so „gewollt“ ist oder nicht – das wissen Sie eh nicht. Sie werden es auch nie wirklich wissen, aber das ist ein anderes Thema. Als moderne Menschen gehen wir davon aus, dass es keine höheren Kräfte gibt und das heißt buchstäblich, dass die dunkle Seite „mit uns gewachsen ist“. Sie entwickelte sich mit Umständen – Ihrer Genetik, die ja nichts anderes ist als der Speicher wesentlicher Informationen von Ihren Vorfahren, Ihrer Gesundheit, von Ihrem Hormonspiegel, der Physiologie Ihres Körpers, der Chemie in Ihrem Gehirn, von Ihrer Umgebung, angefangen bei Eltern über Freunde und Feinde bis in die Gesellschaft, in der Sie leben. Zum anderen heißt es, als Konsequenz des Ganzen, dass Ihre dunkle Seite in jedem Fall herauskommt, wenn die Umstände es erfordern. Niemand wird es wirklich unterdrücken können – weder der Polizeistaat noch Wettbewerb noch Sie selbst mit all den Techniken der mentalen Verkrampfung, die seit Jahrtausenden über Ihrer Seele schweben. Falls Sie nicht wissen, was eine Technik für Selbst-Verkrampfung sein soll, denken Sie an „ich darf nicht, weil ich in die Hölle komme“ oder „ich darf nicht, weil es dann keine Liebe ist“ – diese mentalen Blockaden sind vielen sehr gut bekannt. Und Disziplin – ob in der Form der Polizeigewalt oder eigener Prinzipien – kann lediglich das Ausmaß begrenzen, in welchem die dunkle Seite herauskommt. Akzeptanz dessen, dass man manchmal nicht anders kann als die dunkle Seite herauskommen zu lassen, ist der wichtigste Schritt dazu, damit bewusst umzugehen – und dann, hoffentlich, konstruktiv.

Als kein professioneller Künstler habe ich mich mal an einem Bild versucht, welches den Prozess der Bewusstwerdung des Dunklen in sich selbst, zeigen soll. Ich habe die Kunst nicht studiert und hatte keine Möglichkeit, es jahrelang von Tag zu Tag entsprechend zu üben, daher bitte ich um etwas Nachsicht – es sieht nicht perfekt aus. Aber es sollte genug ausdrucksvoll sein, um die Gedanken aus diesem Beitrag bildhaft zu veranschaulichen.

Schokoladenseite

Der besagte Prozess der Bewusstwerdung über die eigene dunkle Seite scheint heutzutage eine massive mediale und eine massive gesellschaftliche Präsenz zu haben. Alle sprechen darüber. „Come to the dark side – we have cookies!“ und so ähnlich. Und nachdem alle mal „die Sau“ herausgelassen haben – immer und wieder, Jahre lang, bis es bewusst geworden ist, dass wir Menschen leider nicht besser sind als eine Sau, … Was dann? Dann haben wir die Wahl. Wir haben die Wahl, wie wir mit den inneren Impulsen, die Sau herauszulassen, umgehen. Zwar auch nicht immer ist es uns möglich, Widerstand zu leisten, aber zunehmend häufiger, wenn es bewusst ist.

Na nun, ist es denn schon alles? Nein. Der Widerstand ist auch ein Lernprozess. Es wird immer und wieder darauf ankommen, ob wir uns als fähig erweisen, den Widerstand zu leisten. Ist es nicht die alte gute Verrücktheit wie damals „Kampf gegen Teufel“? Wie Martin Luther es oft zu kämpfen pflegte und all die „komischen Christen“ und andere religiöse Fanatiker? Ehrlich? Ich weiß nicht, ob Sie es damit vergleichen können.

Denken Sie mal über folgende – hier fiktive, aber realistische – Geschichte nach:

Klara war ein etwas unsicheres Kind und musste daher oft in Auseinandersetzungen mit anderen einstecken. So ging es bis sie an die Uni kam. Das heißt die ganze Schulzeit war Klara ein typisches „Opfer“ – furchtbar… Dann lernte sie Informatik, tat sich zusammen mit etwas verdächtigen Cliquen, verschwand die ganzen Nächte, zog schließlich um. Jahre später landete sie im Gefängnis. Es ist herausgekommen, dass sie sich bei einigen ehemaligen Mit-Schülern rächte. Einer davon räumte sie die Konten aus. Einem anderen ruinierte sie Reputation und Gesundheit. Einer weiteren erschwerte sie massiv Berufsleben. … Irgendwann ist es der Polizei aufgefallen, dass es zwischen den Opfern eine Verbindung gab – die Schule, der Spaß, die Opfer ihrer Jugend. So fragten sich die Beamten, wer der nächste sein könnte und … dann fassten sie Klara.

Stellen Sie sich mal vor, bei dem einen – „dem nächsten“ – hätte Klara sich zurückgehalten. Einmal. Sie hätte den Knast vermieden. Heißt es, dass sie nie mehr in Versuchung gekommen wäre? Bei der Vorgeschichte wie ihrer wäre sie sicherlich immer und wieder versucht. Und um sich selbst das Leben nicht zu vermasseln, hätte sie immer und wieder ihre dunkle Seite unterdrücken müssen. So etwas hätte Übung gebraucht. Für Klara wäre diese Erkenntnis zu spät.

Also ist beim Überwinden des inneren Schweinehundes Übung vonnöten. Soweit so gut. Aber das kann doch nicht alles sein! Ganz richtig, ist es auch nicht. Hier brauchen wir Re-Fokussierung, vom Dunklen aufs Helle. Das ist als ob Sie plötzlich die Sonne anschauen. Einmal blendet es. Es kann abschrecken, es kann schädlich zu sein scheinen, wehtun. Wenn man es aber doch schafft, den neuen Fokus zu behalten, sieht man wesentlich mehr als nur einen Lichtstrahl. Stellen Sie sich vor, Sie helfen einem Kriegsopfer zu überleben. Dann helfen Sie ihm, sein Leben auf die Reihe zu bekommen – anständige Arbeit, gutes Verdienst, guter Wohnort, gute Freundschaften, Hoffnung. Um auch nur einer Person so zu helfen, müssen Sie lange dranbleiben. Sie müssen Herausforderungen durchlaufen – angefangen von politischen Wellen über Bürokratie und Antipathien, über alles Menschliche bis durch Ihre Zweifel hinaus – solange bis Ihr Schützling Schritt für Schritt näher an sein Ziel kommt. Das dauert Jahre. Was kriegen Sie dafür? Eventuell gar nichts. Außer dem Wissen, dass Sie Gutes getan haben – Ihre helle Seite ausgelebt eben. Wahrscheinlich werden Sie dabei ein gutes Gefühl bekommen und es wird Sie Ihr ganzes Leben lang wärmen, Ihnen vielleicht sogar so etwas wie Sicherheit geben. Probieren Sie es doch aus! Jedenfalls kann man sicher davon ausgehen, dass auch die helle Seite Übung braucht.

Aber mal ehrlich, wie „komisch“ das heutzutage wirkt. Jemandem sein Bestes zu geben und nichts zu erwarten, statt Spaß, statt Geld, statt … Ist es nicht ein blöder Zeitverlust? Naivität? Sie entscheiden. Sie haben die Wahl. Noch schwerer wäre wahrscheinlich, jemandem zu helfen, nachdem Sie von dieser Person irgendwie verletzt waren – das wäre Vergebung. Doch das Thema ist zu groß für diesen Beitrag.